Endlich, so könnte man sagen, kommt die wochenlange, um sich selbst kreisende mediale Erregung zum „Fall“ Handke zur Ruhe, und der Mensch und Schriftsteller Peter Handke gewinnt mehr Aufmerksamkeit. Auf den Seiten von tell hat sich Lars Hartmann in wohltuender und nicht diffamierender Weise zu Handkes Beweggründen in der sogenannten Jugoslawien-Debatte geäußert, und Sieglinde Geisel beschäftigt sich mit dem Schreiben und der Sprache Handkes.

Hundert Seiten Handke – ein P.S. zum Page-99-Test

Sie hat sich dazu das jüngste Werk des Autors angesehen, das 2017 unter dem Titel „Die Obstdiebin“ (Untertitel „Einfache Fahrt ins Landesinnere“) erschienen ist. Da sie jedoch nur die ersten 100 Seiten dieses Werkes gelesen hat, könnte es sein, dass ihr wesentliche Aspekte entgangen sind. Da ich das 559 Seiten umfassende Buch in Gänze gelesen habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mich in die Debatte einzuklinken.

Wahrnehmung und (a)politisches Schreiben

Ich beginne mit einem Zitat von Sieglinde Geisel zu Handkes Buch: „Es ist ein durch und durch apolitisches Schreiben. Es blendet aus, dass es etwas jenseits dieses unablässig um seine eigene Wahrnehmung kreisenden Selbsts gibt, das überhaupt erzählenswert, sagenswert wäre. Diese Prosa kommt nicht von Homer, von Tolstoi, von Cervantes, denn das sind keine apolitischen Autoren. Mit dem Stammbaum, den Handke sich anmaßt, hat sein Schreiben nichts zu tun, zumindest nicht, wie es sich auf den ersten hundert Seiten von „Die Obstdiebin“ zeigt.“

Ganz abgesehen davon, dass man darüber streiten kann, ob überhaupt und wenn ja, auf  welche Weise Literatur politisch sein soll – und was in diesem Kontext „politisch“ im engeren und weiteren Sinn bedeuten könnte -, lässt sich der hier formulierte Vorwurf nicht aufrecht erhalten. Dies im Übrigen aus meiner Sicht schon nicht auf den ersten 100 Seiten, aber das lasse ich dahin gestellt sein. Tatsächlich tritt die titelgebende Hauptperson erst ab Seite 136 in Aktion. Dort wird der Leser Zeuge eines Treffens zwischen der Obstdiebin und ihrem Vater, der sie beauftragt, nach der Mutter zu suchen, die sich im Land nördlich von Paris, in der Picardie, aufhalten soll. Daraus entfaltet sich dann auf etwas über 400 Seiten eine dreitätige Wanderung der jungen Frau durch Städte, Dörfer, Auen und Hochplateaus. Auf den ersten Blick – und dies betont der Erzähler selbst mehrfach – sind dies drei ereignislose Tage. Da aber die Obstdiebin auf ihrer „Fahrt ins Landesinnere“ (so der Untertitel) ungefähr einem Dutzend Menschen begegnet, werden anhand dieser Begegnungen die großen Themen aufgerufen, die den Menschen heute und seit je umtreiben: Krieg und Frieden, Gewalt und Schuld, die Vereinsamung in der modernen Gesellschaft und das Bedürfnis nach Gemeinschaft, die Weitergabe von Traumata von Generation zu Generation, die Verstrickungen in Familiensysteme, die Würdigung der Ahnen, und schließlich der Umgang mit dem Tod. Unweigerlich werden dabei philosophische und spirituelle Dimensionen berührt, wie die Frage nach Zeit und Ewigkeit, nach Offenbarung und Erlösung, obwohl diese Worte nie explizit fallen. Im Jahr 2016 geschrieben, scheint in dem Werk nicht zuletzt auch die Flüchtlingsdebatte jener Tage durch. So viel zu dem vermeintlich „apolitischen Schreiben“ in Handkes „Die Obstdiebin“. Neben dem „Was“ geht es bei Literatur jedoch immer auch  um das „Wie“ des Geschriebenen. Und da käme man dann auf Handkes „Vorbilder“ – oder Stammbaum, wie es Sieglinde Geisel nennt. Sie bezeichnet es als des Autors Anmaßung, dass er sich in der Tradition von Homer, Tolstoj und Cervantes sieht. Immerhin schickt sie selbst die Einschränkung hinterher, dass sich ihr Urteil nur auf die ersten 100 Seiten beziehe.

Ohne dass ich jetzt an ausgewählten Beispielen Analogien zu den drei Größen der Weltliteratur ziehen möchte (auch das wäre zweifellos spannend), sei nur soviel gesagt: Ich lese „Die Obstdiebin“ als ein episches Langgedicht, das den sprachlichen Rhythmus und Klang der großen Epen aufleben lässt, wobei der Autor explizit mehrfach an Wolfram von Eschenbach anknüpft. Es ist also kein Roman und kein Buch für Schnellleser, die nach kurzen, klaren Botschaften suchen. Geduld und sogar die etwas aus der Mode gekommene Muße sind zweifellos wichtige Begleiter, um sich auf eine genussreiche Lektüre einzulassen.

Mir wurde dieser Genuss in konzentrierter Form gleich beim ersten Lesen zuteil, und beim zweiten und dritten Umgehen mit dem Text sogar in steigendem Maße. Schon beim ersten Lesen habe ich mich seinerzeit gefragt, was mich an dem Buch so tief berührt. Es ist zunächst tatsächlich der besondere sprachliche Rhythmus des Werks, der mich getragen hat, also gerade jener „Stil“, gegen den Sieglinde Geisel eine starke Abneigung empfindet. So stark, dass sie Handke abspricht, große Literatur zu schreiben. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier zu einem Kunstwerk ein Werturteil gefällt wird – und zwar auf Basis einer persönlichen Empfindung. Die Autorin mag einwenden, sie analysiere lediglich mit bewährten Methoden die Sprachverfahren Handkes. Die Analyse ist eines, doch lassen sich daraus so einfach Kriterien für die Güte eines literarischen Werks ableiten, die dem Kritiker ein allgemeines Urteil und eine eben solche Wertung erlauben? Das scheint mir zumindest problematisch.  Man kann die Redundanzen und Doppelungen in Handkes Prosa kritisieren, wie es Sieglinde Geisel tut, es gibt jedoch eine lange Tradition solcher Verfahren, die aus mythologischen Erzählungen stammen, nicht zuletzt aus dem Alten Testament. Unabhängig davon habe ich das Verfahren der Doppelungen als ein Anknüpfen an die mündliche Tradition des Erzählens gelesen, was dem Genre des Epos durchaus ansteht. Selbstredend kann man der Autorin ihre Empfindung beim Lesen des Textes nicht absprechen, denn jeder Leser und jede Leserin reagieren auf Sprache mit mehr oder minder starken Emotionen. Und doch wäre es wünschenswert, zwischen Empfinden und Wertung sauberer zu trennen – wenngleich dies schon Auftakt zu einer weiteren Debatte zu einem Grundsatzthema wäre.

Ich versuche daher, im Folgenden nicht zu sagen, was Handke aus literaturwissenschaftlicher Sicht Geniales oder Verwerfliches leistet, sondern lediglich, welche Empfindungen die Lektüre in mir geweckt hat. Wie schon erwähnt, hat mich, im Gegensatz zu Sieglinde Geisel, der charakteristische Sprachgestus des Verzögerns – oder Hinauszögerns – in seinen Bann gezogen. Sieglinde Geisel spricht in diesem Zusammenhang von einem „Stottern“ der Sprache, das für sie quälend werde. Bei mir entsteht die entgegengesetzte Wirkung: ich fühle, wie mir auf wohltuende Weise, um es ganz leiblich auszudrücken, die Brust weit wird. Das Lesen des Textes wird zu einer Art Durchatmen, in dem ich die Welt neu und anders in Empfang nehme. Im Fluss der Sprache kann ich nacherleben, wie sich bestimmte Wahrnehmungen langsam heraus bilden – sei es das Rufen einer Eule, das Hervorkommen des Mondes hinter dem Turm mit seiner Uhr, das Rascheln und Knistern im Wald -, erst schemenhaft, dann deutlicher, dabei Ahnungen, Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen weckend. Ich spüre dabei eine Befreiung von Hast und Übereilung in meiner eigenen Wahrnehmung. Stattdessen erlebe ich durch einen langsam gehenden und hier und dort innehaltenden, zögernden und schweifenden Sprachfluss die Dinge, die Natur und die Menschen auf neue, vielleicht nie gehörte und gesehene Weise. Auch lenke ich größere Aufmerksamkeit auf meine Eigenwahrnehmung. Das Unscheinbare und leicht zu Übersehende gewinnt neue Bedeutung – oder überhaupt erst eine. Und so – welch ein Geschenk – erhält der Augenblick für mich eine neue Dauer, wie zum Beispiel in folgender Passage:

„Dafür hörte sie dann, mit der Zeit immer vordringlicher, wenn auch keinmal vorherrschend, ganz anderes. Und das waren einmal – kaum zu glauben, oder doch – dabei völlig ungewiss, von wo die Geräusche kamen, ob aus den Grasrondellen um die neugepflanzten Stadtbäumchen, aus deren Laubwerk oben? ein nächtliches Grillenzirpen – „zirpen“ ein einmal im guten Deutsch wie unzureichendes Wort – und dann, in der weiten Ferne, Eulenrufe, die man anfangs für ein langgezogenes Miauen von Katzen halten konnte….und aus dem Vordringlichen wurde jetzt, heimlich und noch heimlicher, das Eindringliche. Die Laute der Rufe der einen Mittsommergrille trafen auf ein Antworten von woanders, und wieder woanders, da, dort, in  Stadthintergründen, und auch die Eulenschreie wurden beantwortet, statt mit einem Miauen von einem Pfeifen, das zugleich ein Gurgeln war, wie unter Wasser, oder von einer Wasserpfeife.“

 

Handkes Sprachfluss empfinde ich daher nicht als „Stottern“, sondern ich nenne es eine Poetik des Innehaltens und Hinhorchens. Beispiele dafür gibt es zu Hauf. Auch jenes vom Herabsenken der Stille auf die Erdlandschaft, das Sieglinde Geisel zum Beweis des sprachlichen „Stotterns“ heranzieht. Sie beschreibt anschaulich ihr Bemühen, den besagten Satz „auszuwringen“. Das kann natürlich nur dazu führen, dass der Satz dann austrocknet und abstirbt, selbst wenn ein Ergebnis in Form einer blassen faktischen „Aussage“ auf dem Tisch läge. Aber in diesem Beispiel, und vielen anderen im Text, geht es ja gerade nicht darum, irgendeine Wirklichkeit beschreibend abzubilden, sondern das langsame Aufsteigen der wahrnehmenden Empfindung als einer vielschichtigen  Bewegung lebendig werden zu lassen. Handke findet dafür seinen Ausdruck in einer Poetik des Innehaltens und Verzögerns. Die wenigsten Leser werden genau diese Empfindung, so wie sie dort sich sprachlich heraus schält, so teilen, aber sie können den eigenen Empfindungen vielleicht mithilfe einer Sprache des Hinhorchens und Verzögerns besser nachspüren. Apolitisch? Oder ist dies nicht gerade eine Form von politischem Akt (im Sinne eines bewussteren Zusammenlebens), wenn ein Autor durch die Preisgabe der Entstehung seiner Wahrnehmung Andere anregt, sich nun auch ihrerseits aufmerksamer zu beobachten?

Doch zum Text: Handke selbst gibt an einer Stelle den entscheidenden Fingerzeig auf sein poetologisches Selbstverständnis. Ausgangspunkt ist dabei das Gehen der Obstdiebin und ihres Begleiters, die sich gern vom Weg und dem, was ihnen am Wegesrand begegnet, überraschen lassen. Deshalb machen sie auch „vorsätzlich langsame Schritte“:

„Ein Ausschreiten war das, ein Ausmessen der Zwischenstrecke mit den Bewegungen von Geometern, verbunden mit einem Aufmerken für womöglich alle auf dem Weg, an ihm und um ihn herum auftretende Einzelheiten. Diese durften nicht übersehen werden. Gerade auf solchen Zwischenstrecken konnten sie die Fingerzeige geben, welche halfen, sich auf das, was einen am Zielort erwartete, vorzubereiten – einen öffnete für das Geschehende dort. Ja, schon auf der Zwischenstrecke jetzt, im Aufnehmen für deren Aspekte, auch deren Hörbilder, konnte es, in der Vorahnung, geschehen – war es möglich, dass es, in Gestalt einer leisen Vorwegnahme, sich ereignete. Konnte was geschehen? Konnte was sich ereignen? Es – was auch immer. Und also: nur keine Hast auf den Zwischenstrecken. Wehe den Übereiligen dort …“

Tatsächlich passt Handke sein Schreiben dem Gehen an – oder ist sein Schreiben ein langsames Gehen? Jedenfalls ein Aufmerken für das Einzelne, ein Aufnehmen von Hörbildern, eine leise Vorwegnahme und eben die Öffnung hin auf ein innehaltendes Zwischen, ob als Zwischenstrecke, Zwischenraum oder Zwischenzeit. Als Leser fühle ich mich eingeladen, den Zwischenräumen und Zwischenzeiten mehr nachzuspüren, in denen mich eine Fülle von noch zu Entdeckendem und noch nicht Gesagtem erwartet. Die Obstdiebin und ihr Begleiter scheinen, so heißt es im Text kurz vor der zitierten Passage, „nachdenklich“ und „von weit her zu kommen“. Ein meditativer oder spiritueller, zuweilen mystischer Klang „von weit her“ durchweht für mich das ganze Epos – so wie für andere ein religiöser Text oder ein Gebet.

Reise ins Innere  als Reise ins Außen

Ist dieses meditative Schreiben apolitisch im Sinne eines Kreisens nur um sich und die eigene Wahrnehmung? Es scheint mir unbestreitbar, dass die allgemeine Verfeinerung der Wahrnehmung sich förderlich auf ein gelingendes Miteinander auswirken wird. Die großartige Etty Hillesum hatte seinerzeit auf ihrem Weg in das Lager Auschwitz geschrieben, dass nur dann Frieden in der Welt möglich werde, wenn der einzelne zunächst den Frieden in sich selbst fände. „Die Obstdiebin“ folgt diesem Pfad ausdrücklich, und dies ist so etwas wie ein programmtischer Faden des ganzen Epos. Als die Protagonistin und ihr Begleiter zum Beispiel bei einem vereinsamten Hotelwirt auf der Flucht vor einem Unwetter unterkommen, schläft die Obstdiebin in einer kleinen Kammer unterhalb einer Treppe – eine Art Verschlag, der sie jedoch an ähnliche Orte ihrer Kindheit erinnert. In diesem Kontext steht das folgende Zitat:

„Eine Forschungsreise zu sämtlichen Untertreppenbehausungen zu welchem Zweck, Ziel, Behuf? Um was zu erforschen in den Verschlägen, den einstigen Schlafstätten, Besenkammern, Verstecken für Deserteure und Resistáncekämpfer, Arrestzellen zum Wegsperren ungestümer Kinder, Todeszellen für die bei Morgengrauen Hinzurichtenden? Zu erforschen was auch immer. Zu forschen, all dieser Untertreppenhöhlen – nachzuforschen insbesondere in sich selber.“

 

„Einfache Fahrt ins Landesinnere“ heißt der Untertitel des Buches – es könnte auch einfach heißen „ins Innere“, in das innere Land eines jeden Lesers und einer jeden Leserin. Die Obstdiebin jedenfalls weicht der Erforschung des eigenen Inneren nicht aus, so wie auch den verschiedenen Konflikten nicht, denen sie sich auf ihrer Fahrt zu stellen hat – bis hin zu einem blutigen Faustkampf mit einer ehemaligen „Feindin“, die sinnig als „Doppelgängerin“ bezeichnet wird. Aus diesem Kampf geht die Obstdiebin gestärkt hervor. So sehr, dass sie sich dem Krieg in sich selbst stellt, ihrem „Wüten gegen die Welt“, nicht gegen einen bestimmten Menschen. Sie fragt sich, weshalb ihr und ihres Gleichen der Zugang zur Welt verwehrt sei. Hänge dies nur damit zusammen, dass ihre Großeltern als Flüchtlinge den Status der Staatenlosigkeit hatten? (Apolitisches Schreiben?). Käme daher ihr Wunsch nach Zugehörigkeit?

Aus diesem Wunsch scheint zugleich die besondere Aura zu entspringen, die sie umgibt: eine Mischung aus Verletzlichkeit und Entschlossenheit, aus Anmut und Geistesgegenwart, mit der sie anderen Menschen im entscheidenden Moment beispringt, aus gesunder Selbstfürsorge und  Feinfühligkeit gegenüber den Verlorenen und Verstoßenen. Sowohl einige Rezensenten als auch manche Figuren im Roman sehen in ihr eine Heilige. Doch stimmt das? Eher werden wohl Hoffnungen, Idealbilder und Versäumnisse auf sie, „die Besondere, die eine Mission hat“,  projiziert. Doch von einer Mission will sie selbst nicht wissen. Aber die inneren Kämpfe, die sie mit sich austrägt und ihr Gewahrsein, in dem sie ein feines Gespür nicht nur für sich selbst zeigt, sondern für das, was unausgesprochen zwischen den Menschen hin und her schwingt, machen sie zur „Expertin für die Welt“, wenn unter Welt das Dreieck „ich selbst, die Natur und die Anderen“ verstanden wird. In diesem Dreieck ist sie jederzeit auf dem Sprung, mitzutun und einzuspringen – oder wie es heißt zu geben. Dies tut sie ohne Mission und ohne Absicht, sondern – so wie ihr Obstdiebestum in einem absichtslosen Umherstreifen besteht – im „Vorbeigehen“ oder in ihrem schieren So- Sein und Da-Sein. Damit wächst ihr das Vertrauen der Anderen wie nebenbei zu. Und sie? Sie kann den Schmerz der Anderen tragen, die sie ihren eigenen kennt und ihn zugleich je neu überwindet. Das Erleben dieser Spannung kann mich als Leser zu Tränen rühren und mir zugleich Kraft spenden – auch dazu, den eigenen Schmerz  besser zu spüren und ihm seinen Platz zu geben.

Platz wird ihr, der Umherstreifenden, überall sofort eingeräumt, als ob man auf sie gewartet hätte. In ihrem „stillen Übermut“ und ihrem absichtslosen Gewahrsein erscheint sie als Vertraute, der man sich öffnet, wie eine Wohltuerin (nicht Wohltäterin), ohne etwas zu „tun“. Auch als Leser fühlt man sich an ihrer Seite seltsam „ins Vertrauen gezogen“, so als kennte man sie seit jeher. Beispielhaft die Szene, als die Obstdiebin am ersten Tage ihrer Wanderung in ein Haus eintritt, in dem gerade ein Toter betrauert wird. Sie kommt herein und wird „erkannt“, obwohl sie nicht nur fremd ist, sondern in dem Haus sogar eine andere Sprache gesprochen wird. Auch hier entfaltet Handkes Poetik des Hinhorchens und Innehaltens ihre besondere Aura:

„Die Haustür war offen…sie trat ein. Trotz der großen Stille im Haus spürte sie die Anwesenheit von Menschen, ja von vielen.,…die Mitte der Räume war leer, bis auf den letzten dann, wo ein Katafalk stand, oben drauf ein offener Sarg. Sie trat näher und sah den Toten darin….von Raum zu Raum war ihr von einer oder andern der unter völligem Stillschweigen Dahockenden zugenickt worden, als kenne man sie. Sie war eine von den Trauergästen, eine, die teilnahm an der Totenwache. Eine alte Frau trat auf sie zu, ergriff die Obstdiebin an der Hand und hielt sie lange von der ihren umschlossen, die Augen der Greisin, mit Blick auf die im Abstand zum Sarg Gebliebene, sich zusehends füllend mit Tränen. Auch ihr, der Ortsfremden, waren flugs die Augen nass geworden, wie erzählt wurde.“

Die daran anschließende Szene findet in ihrer Verbindung von Zartheit, Erschrecken und neuerlichem Klang „von weit her“  kaum ihres Gleichen:

„Sie besprengte den Toten in seinem Sarg mit dem Weihwasser aus einem ehemaligen Marmeladentopf, in dem ein Buchsbüschel steckte. Zu den Tropfen auf dem wie alterslosen Leichenantlitz kamen noch einige dazu. Sie hatte so reichlich Wasser zu ihm hingewedelt, dass eine der zu seinen Häupten brennenden Kerzen zischte, fast erlosch und danach umso höher aufflammte. Erst im Ausholen, um ihn zu besprengen, merkte sie, dass sie in derselben Hand all die Zeit einen Stengel mit einer Dolde aus trockenen Leinsamenkügelchen mit sich getragen hatte, aufgelesen irgendwo am Rand eines abgeernteten Feldes vor der Busfahrt in die neue Stadt. Sie hatte den Halm, wie es ihr oft mit Dingen geschah, in der Hand vergessen. Und woran merkte sie es? An dem Geräusch der Doldenkugeln, zwischen Rascheln und Rasseln, etwas noch nie so Gehörtes, so leise und dabei so zart, dass es sie aufhorchen ließ, und nicht nur sie allein. Denn als sie sich umschaute, wie um sich für dieses in einem Totenhaus ungehörige Geräusch zu entschuldigen, wurde ihr von ein, zwei der Trauergäste zugenickt, als kennten sie solch ein Leinkugelgerassel, als Teil eines alten Brauchs.“

 

Welche Fülle an sinnlichen Wahrnehmungen und einzelnen Beobachtungen in diesen wenigen Zeilen. Das ziellose Umherstreifen in der Natur, wie es das Obstdiebestum mit sich bringt, dringt ungefragt und ungewollt in den Raum stiller Andacht ein. Dafür stehen die frisch gepflückten Doldenstengel, aber auch die nach anfänglicher Scheu etwas ungestüme Art der Obstdiebin, die etwas Keckes, vielleicht sogar leicht Derbes sichtbar werden lässt, im Unterschied zu ihrer sonst eher feinfühligen, geradezu ätherischen Natur. Vielleicht verbindet gerade ihre Vergesslichkeit die beiden Pole – zwischen ganz alltäglicher, geradezu geerdeter Schusseligkeit und einer gewissen Form der Weltentrücktheit. Dann ein feines Auffächern der  Geräusche, vom Zischen der Kerzen bis zum Rascheln und Rasseln, das einerseits „zart und leise“ und doch zugleich „für ein Totenhaus ungehörig“ erscheint. Vor allem aber: „etwas noch nie so Gehörtes“!  Auch dies ein öfter wiederkehrender Topos: wenn wir unsere Sinne für die noch unentdeckten Zwischenräume und Zwischenzeiten öffnen, zeigen sich manche Dinge zum ersten Mal. Und dann das Einvernehmen, mit dem das Geräusch in die Trauerszene eingegliedert wird, weil es an einen alten Brauch erinnert. Auch hier eine Schlüsselstelle: in all ihrer Anmut ist die Obstdiebin eine Figur, die die alten Bräuche in sich trägt, teilweise unbewusst, dann wieder deutlich abergläubisch oder in stillem Gedenken und eben solcher Andacht. All dies mag wohl dazu beitragen, dass man sich ihr anvertraut.

Am Ende dieser Episode spricht die Obstdiebin ein einziges Mal in der ganzen Szene, und zwar nachdem die Frau des Hauses ihr ausführlich von dem Verstorbenen und den ungelösten Konflikten erzählt hat, die er mit ins Grab nimmt. Was sagt die Obstdiebin darauf? Wer weiß – diese Worte haben in meinen Ohren nichts von Gleichgültigkeit, sondern klingen eher fürsorglich augenzwinkernd, ein Geheimnis und zugleich eine Offenbarung ankündigend. Mit der Zukunft wird auch die Vergangenheit in der Schwebe gehalten. Diese Schwebe ist es auch, die das Epos als Ganzes hält  – nichts ist endgültig, alles in Bewegung, im Fluss. Lasse ich mich auf diese (Sprach-)Bewegung ein, erfasst mich eine Seelenruhe, die mir Zuversicht gibt, dass hinter allen Projektionen, die Menschen von- und übereinander konstruieren, jeden Augenblick ein anderes Miteinander sich ereignen kann, ein Einvernehmen ohne Harmoniezwang, ein stilles aufeinander Hören und ein gemeinsamer Rhythmus im Begegnen. Beispielhaft hierfür das  zufällige Aufeinandertreffen der Obstdiebin und einer Briefträgerin. Beide nehmen denselben Weg, die eine zu Fuß, die andere auf dem Fahrrad, wobei diese immer wieder anhalten muss, um einen Brief abzugeben. Und so entfaltet sich langsam ein Rhythmus des gegenseitigen wortlosen Überholens, das mit dem weiteren Anstieg der Straßen in Kurven und Kehren in ein gegenseitiges, einvernehmliches Umfangen mündet, das beseelt.

Es gibt Dutzende solcher Szenen, in denen mit filigraner Sprache, in einem Rhythmus des Umkreisens und Tastens ganz fein den wechselnden Gemütszuständen nachgespürt wird.

Dieser Rhythmus wirkt auf mich ungeheuer belebend, denn ich beginne, mich selbst und meine Gefühle in der Begegnung mit mir und Anderen intensiver zu spüren. Nicht nur aus diesem Grund habe ich beim Lesen eine tiefe Verbundenheit gefühlt. Verbundenheit mit wem, könnte man fragen. Einfach Verbundenheit, vielleicht mit dem sprichwörtlichen „Menschen“.  Und diese Verbundenheit erhält zusätzliche Kräftigung dadurch, dass die Obstdiebin gerade nicht der sanfte Engel ist, dessen Bild sich bei oberflächlicher Lektüre rasch einstellen kann. Sie stellt sich vielmehr dem Kampf, dem äußeren wie dem inneren – und in einer der letzten Szenen, nachdem sie den Faustkampf mit ihrer Doppelgängerin bereits siegreich bestanden hat, begegnet sie an einem Zebrastreifen, an dem sie über drei Seiten lang innehält, ohne ihn zu überqueren, einem „Stadtrandzeichner“. Von ihm möchte sie gern wissen, wie es um sie bestellt sei. Ohne dass sie diese Frage auszusprechen hätte, liest der sonntägliche, leicht angetrunkene Maler diese aus ihren Augen und bescheinigt ihr, sie habe nicht nur den äußeren Kampf (mit ein paar Blessuren) bestanden, sondern auch den Krieg mit sich selbst bisher überlebt. „Und beides zusammen hat dich aufblühen lassen“. Er fährt fort: „Was für Augen! Was für eine Farbe! Steht doch geschrieben von der Frische der Augen nach dem Gebet…warum nicht auch die Frische der Augen nach dem Kampf?“ Eine der wenigen Stellen übrigens, an denen von der Schönheit der jungen Frau die Rede ist – ansonsten weiß der Leser nur, dass sie Mitte Zwanzig ist, eine wohltuende Stimme hat und auffällige Ohrringe trägt. Ach ja, von wenigen Sommersprossen ist noch die Rede. Der Kampf, der sie nun aufblühen ließ, hat sie im Übrigen davon befreit, sich schuldig zu fühlen. Jetzt erst, so klingt es an, winkt ihr auch die Gemeinschaft, derer sie bedarf – denn nun ist sie nicht nur Wohltuerin und Zuhörerin, sondern man wird ihr etwas zutrauen, sie wird auch selbst „erkannt“ werden, und das will heißen „geliebt“, wie sie ist, mit all ihren inneren Anteilen.

Dieses Epos entpuppt sich als eine Abenteuergeschichte der anderen Art – dem Abenteuer der Selbstwerdung und der Begegnung mit dem Anderen, das stets eine Begegnung mit sich selbst ist.

Die Nachbilder

Ich möchte noch auf eine weitere Bedeutung der Poetik des Innehaltens eingehen. Während Handke zuvor eine im Aufmerken auf das je Einzelne sich schärfende Wahrnehmung aus den Klangbildern seiner Sätze auftauchen lässt, verbunden mit einer leisen Vorahnung auf das Kommende, widmet er sich nicht weniger intensiv der umgekehrten Zeitrichtung von Wahrnehmung: dem Nachbild. Auch dies taucht langsam aus Worten und Sätzen auf – wie am Beispiel der Begegnung der Obstdiebin mit einem über Land fahrenden Bäcker:

„Im Nachhinein erst sah sie, dass das Lenkrad des Brotlieferfahrzeugs bestäubt war vom Mehl. Und ebenso im Nachhinein wurde ihr bewusst, auch das Mehl an den Fingern des Bäckers beim Händedruck zum Abschied (wieder ein Abschied), erst jetzt spürte sie es nachwirken an den eigenen Händen, eine „körnige“ Empfindung; der Bäcker war also gleich von der Arbeit weg in das Auto gestiegen; Händewaschen? Nicht nötig. Wie vieles von den anderen einem doch erst im Nachhinein zukam, dafür dann umso eindrücklicher, unvermutet einen anfliegend als Schwade, beseelende.“

 

Die letzten Worte scheinen geradezu exemplarisch für die Poetik des Innehaltens. Hätte Handke hier „beseelende Schwade“ geschrieben, wären ein anderer Text und ein anderer Sinn entstanden. So aber wird die Schwade eben nicht sofort als „beseelende“ wahrgenommen. Oft bedarf es tatsächlich des Zeitverzugs, um eine  Empfindung (wie in diesem Fall die der Beseelung) auf etwas Bestimmtes – eine Begegnung, eine Erinnerung – zurückführen zu können. Für diesen Verzug die Sinne zu schärfen und uns einzuladen, die Zeit zu nehmen, jedweder Form der „Beseelung“ nachzuspüren, auch dafür  kann ein verzögerndes Schreiben den Weg öffnen.

Doch differenziert Handke noch weitergehend zwischen einem kurzfristig nachwirkenden „nachhinein“ wie in dem obigen Zitat und einem auf lange Sicht nachwirkenden. Dabei geht es um die sogenannten und für sein Schreiben so wichtigen Nachbilder. Grundlage dafür, dass diese in uns aufsteigen, ist eine andere Weise des Wahrnehmens als die auf das je Einzelne spähende und lauschende: eine absichtslose, die sich aller bekannten Bilder entschlägt und Dinge und Welt lediglich im Vorbeigehen wahrnimmt:

„…aber zugleich stand fest, es würden so im ereignislosen Unterwegssein, ohne  dass man etwas ins Auge fasste oder gar beobachtete, Bilder auf einen über- und in einen eingehen; Bilder, die nichts gemein hatten mit gleichwelchen photographischen oder gemalten, und schon gar nicht den biblischen. Es waren das die profanen Bilder der Orte und Stätten, an denen man vorbeikam, von Orten, die man nicht eigens wahrnahm, sondern eben im Vorbeigehen. Was für die Nachbilder galt, dass sie ausblieben, sowie man das Gegenüber, den Gegenstand speziell ins Auge fasste oder extra beobachtete, das galt ebenso für die Bilder der ohne Augenmerk für Besonderheiten, ohne einen anspringende Einzelheit, ohne „erzählenswerte Ereignisse“ passierten Örtlichkeiten des Erdkreises. Sie wurden zu Bildern dann nur, weil man ihrer in der Gegenwart nicht bewusst geworden war. Sie  entstanden erst im Nachhinein, doch im Unterschied zu den üblichen Nachbildern nicht gleich danach, sondern sehr im Nachhinein, viel viel später, oft Jahre und Jahrzehnte später, und nicht in den Augen, hinter den Lidern, vielmehr überall im Körper. Die jetzt ohne Augen für gleichwas über das Land Gehende würde eines Morgens oder Abends in, sagen wir, acht Jahren in einem Zimmer gleichwo den Arm abwinkeln, und sie würde da erst des eisernen Wegkreuzes inne, an welchem sie in der Gegenwart gerade vorbeikommt – Vergangenheitsbild, Gegenwartsbild und Zukunftsbild in einem…“

Diese und verwandte Passagen zu den Nachbildern habe ich als Geste der Beruhigung empfunden, als Einladung zur Zwanglosigkeit, nicht Alles genau und bis ins Einzelne erkunden zu müssen. Alles findet seinen Platz und fügt sich, irgendwann, auch ohne unser planvolles Zutun, wenn wir dem Aufsteigen der Nachbilder Raum geben. Unser Körper wird dann das Seinige tun bzw. nicht tun, sondern einfach bewahren, was ihm vom Rande des Geschehens zukam. Auch hier wieder das Gefühl der Verbundenheit mit einem Größeren, das inmitten der Vergänglichkeit zugleich etwas bleiben lässt, das nicht vergeht, gerade das scheinbar Flüchtige nicht. Zugegeben haben die Nachbilder neben diesem beruhigenden Aspekt des Bleibens auch etwas Beunruhigendes: indem sich Begegnungen und Erfahrungen in den Körper einschreiben, liegt darin zweifellos eine Quelle für die Traumata und Dämonen, die Menschen zuweilen plagen und verfolgen. Handke hat hier sicher beides im Sinn. Und beides kommt in der Figur der Obstdiebin auf zarte Weise zum Ausdruck. Krieg und Frieden sind auch im Text oft nah beieinander. Es ist diese Gleichzeitigkeit des scheinbar Ungleichzeitigen und das Sogleich des Verzugs, was die besondere Sprache des Handkeschen Epos aus meiner Sicht auszeichnet.

Die Sprache selbst

Abschließend sei doch noch ein kleiner Finger in Richtung Literaturwissenschaft ausgestreckt. Doch dies nur von ungefähr. Die Vertreter und Vertreterinnen ihres Fachs sind bekanntlich oft auf die berühmten selbstreferentiellen Textpassagen erpicht, in denen der Autor in seinem Schreiben Sprache, Schrift, Erzählen etc. selbst reflektiert. Auch dies hat Handke gleich mehrfach zu „bieten“. Als Beispiel sei die Szene erwähnt, in welcher der Obstdiebin deutlicher wurde, dass sie sich auf eine Forschungsreise in ihr Inneres aufzumachen habe. Nun suchte  sie nach einer „Kraftquelle“ zur Vorbereitung auf das Kommende. Als einzig dafür geeignet erschien ihr das Buch, in dem sie gerade las. Beim Weiterlesen dann

„ging die Erzählung in der Leserin in eine andere über, bekam, während sie im Lesen innehielt, eine neue Variante, eine die nicht im Buch stand, jedoch ohne das Buch nicht hätte entstehen können.“

Dies kann man lesen als gelassenen und liebevollen Hinweis des Autors Peter Handke an seine Leser. So Literatur zu verstehen, als weiter zu erzählende, ist keine Neuheit, aber als kleine Erinnerung in den Text eines Epos eingeflochten, sehr wohltuend. Vor allem hochpolitisch im Sinne eines Einspruchs der poetischen Sprache gegen ein erstarrtes Entweder-Oder-Denken. Bei jeder neuen Lektüre der „Obstdiebin“ lasse ich jedenfalls auf mich zukommen, welche andere Erzählung aus den Zwischenräumen des verzögerten Sprachflusses mir begegnen mag. Eine unendliche Lektüre…..

Nachbemerkung: Eine leicht gekürzte Version dieses Textes befindet sich auch auf der Seite von tell-review. Der Doppelabdruck ist einvernehmlich mit den Herausgeberinnen der Seiten und dem Verfasser abgesprochen.

„Nur keine Hast auf den Zwischenstrecken…“