Nein, wirklich freundlich ist diese Autorin nicht mit ihrer Heldin. So scheint es jedenfalls. Ihre Claire muss als Tierärztin im richtigen Leben kranke Vierbeiner operieren und den ganzen Bürokram ihrer veterinären Praxis stemmen. In ihrer wenigen freien Zeit besucht sie gern Kunstmuseen in Wien und spricht mit ein paar anderen gebildeten Freundinnen und Freunden über das, was sie da sehen. Moderne Bildungsbürger*innenszene, Menschen mit auskömmlichen Brotberufen, die sie nur mit Superabituren und einem langen Studium erreichen konnten – und von deren banalem Alltag sie sich oftmals so aufgefressen fühlen, dass sie eine Familie nicht mehr zustande bringen, jedenfalls nicht dauerhaft. Denn das Bildungsbürgertum der Tradition, es lebte schließlich vom Konzept der Hausfrauenehe, zudem hatte man in seinen Frühzeiten (und hat es in den wirklichen Eliten auch heute noch) selbstverständlich Personal für die gröberen Aufgaben, so dass die Hausfrau sich ganz ihrem Gatten, ihren Kindern und ihren kulturellen und sozialen Verpflichtungen widmen konnte (wie es in den wirklichen Eliten auch heute noch der Fall zu sein pflegt). Die Claire unserer Autorin läuft aber wie alle anderen Protagonist*innen des Romans (es sind nicht viele, und die braucht’s auch nicht, weil die Hauptdarsteller*innen eigentlich die in Öl auf den Leinwänden im Museum sind) eher durch das Trümmerfeld dieser alten Ordnung. Sie verliebt sich in einen Kunstliebhaber, Leo, der seine Kunstbegeisterung mit der grotesken Verve eines abgeschlagenen Alpha-Mannes ausagiert – ohne wirkliche institutionelle Einbindung, offenkundig durch Erbe Bewohner einer großen Behausung, in der eine „Perle“ ihm den Haushalt führt und auch sonst für Stabilität sorgt.
Ist die Autorin freundlicher mit dem männlichen Helden? Auf Neudeutsch muss man sagen: nicht wirklich. Zwar wird die arme Claire dazu verdonnert, ihn anzuhimmeln, ihm hinterherzueilen, seine gelehrige Schülerin zu geben und am Ende in sein „Spiel“ einzusteigen – ein Spiel, das in ihren Kreisen als die typische Verweigerung einer klassischen Paarbeziehung durch den bindungslosen „Maniac“ besteht, der selbstverständlich von mindestens einer Frau bedingungslose Verfügbarkeit erwartet. Das kriegt Held Leo auch alles von Claire, und sie schweigt brav und fragt nicht nach und lässt sich genug sein an der immer wieder erneuerten Hoffnung, ihn in irgendeinem imaginären Kern seiner sogenannten Persönlichkeit zu „berühren“. Aber zugleich muss er wirklich den Clown geben: den, der sich mit allem was er ist und hat der Kunst und einem eigenartig kriminalistischen Zugang insbesondere zu den Gemälden der Renaissance verschrieben hat. Den immer etwas lächerlich gestelzt daherredenden Kerl, der sich unbekümmert um die neuen Ethiken des bildungsbürgerlichen Trümmerfeldes gnadenlos in den Vordergrund drängt, wenn die Sache, eine wie ihm selbst scheint dringliche Erkenntnis über ein Bild, es erfordert. Und wo man seinen erhabenen Einsichten nicht folgt, donnert er die Schülerin und alle Umstehenden zusammen.
Die allwissende Erzählerin lässt diese beiden Puppen tanzen, bleibt aber im wesentlichen in Claires Kopf – und das ist gut so, denn von diesem scheint sie einiges zu verstehen. Ohne dieses könnte an der Geschichte trotz der unglaublichen österreichischen Sprachsprudelei der Autorin der Verdacht hängen bleiben, hier handele es sich lediglich um ein handwerklich extrem gut gemachtes Story-Telling – zum Gebrauch in den Leistungskursen der Gymnasien empfohlen, da es Interesse für die Renaissancekunst zu wecken vermag, indem die Werke kriminalistisch betrachtet und in fiktiven Dialogen zwischen einem Paar, manchmal auch mehr Leuten und in eine passable Handlung eingebettet erläutert werden. Bliebe es dabei, fühlte man natürlich die Absicht und wäre verstimmt. Ich jedenfalls, wenn ich ein Werk der Renaissance verstehen will, höre mir wirklich lieber einen Vortrag an und sehe dann wirklich lieber von den sonstigen Geschichten der Anwesenden so gut wie möglich ab, wenn die nicht außerordentlich gut und zur Sache stimmend präsentiert werden.
Hier geht es aber dann doch um ein mögliches Paar oder um die Liebe jenseits der üblichen Paarordnungen. Und da es sich wohl vor allem um gehobene Unterhaltung in den Trümmern des Bildungsbürgertums handelt, geht es eben auch um 8 Kunstwerke, die von der Edition Roesner mitgeliefert werden, damit man wenigstens im Kleinformat mitvollziehen kann, um was es geht, wenn da etwa steht:
Leo zog das Leporello mit dem Abendmahl näher heran.
Claire fragte heiter: ‚Wer ist das links von Jesus?‘
Und er: ‚Von welcher Seite aus? Von unserer? Das ist die Frau Meiiier, eine Transvestitin, die kenni!‘
Claire kicherte: ‚Und der daneben, wer ist das?‘
‚Judas.‘
‚Was hat der Judas da für einen Geldbeutel?‘
‚Dreißig Silberlinge drin, fürs Hotel auf Capri. Hach. Was war sein Motiv für den bevorstehenden Verrat – Habgier? Frust, dass Jesus nicht zum Anführer eines Aufstands wurde? Oder spielte doch der Teufel mit! Dann war’s Eifersucht.‘
‚Eifersucht, wieso?‘, begehrte Claire zu wissen.
‚Ist doch bekannt, die kommt von Teufels Einflüsterungen! Nur damit wir uns verstehen: Mich hat er noch nie so beflüstert!‘
Bei diesem Geständnis hätte er’s ja wohl bewenden lassen können. Aber nein, er fügte hinzu: ‚Und Sie?‘
Claire lief rot an, zuckte eine ihrer Schultern. ‚Für solche Sponpanadeln bin ich taub‘, versicherte sie und schaute konzentriert aufs Bild.
‚Sapperlot!‘ brummte Leo – ob enttäuscht oder anerkennend, war nicht zu ergründen. Nach kurzer Denkpause hatte er den Faden wieder. ‚Die Beinarbeit: Bewegung im Lager! Sieht Sie das‘, setzte er fort. ‚Auf der linken Seite? Reibt Judas sein Knie am Oberschenkel des Johannes, treibt dessen Füße zwischen die Tischbeine …“ (S. 113f)
Man versteht die Konstellation: Da sprechen zwei über die Kunst und nicht über die Kunst, da verstehen zwei, wie es scheint, die Kunst des Flirtens, richten aber zugleich wie unter einem strengen unsichtbaren Oberlehrer, der in Leo nur zum Teil inkarniert ist, ihre Aufmerksamkeit immer wieder hingebungsvoll auf etwas, das größer ist als sie, nämlich die Kunstwerke, über die sie sprechen. Mit Leporellos selbstverständlich nur zur Vorbereitung echter Begegnungen mit der Kunst und zur freundlichen Instruktion des Publikums.
Ich vermute, es ist die Melancholie der verfehlten Paarbildung auf dem Trümmerfeld der bildungsbürgerlichen Gesamtordnung, die das Buch immer dann rettet, wenn es ins Schlingern gerät zwischen den Felsen einer zu intakt gebliebenen Didaktik und eines ebenfalls zu intakt gebliebenen absoluten Anspruchs der „bedingungslosen Hingabe“. Denn durch diese Melancholie wird die überwiegend witzige Führung der Personen auch vor dem seicht-Voyeuristischen gerettet, das sich nie unpersifliert in die Kunstbetrachtung der beiden Figuren wie in ihre „hormonellen“ Verwicklungen schleicht. Zu den Glanzmomenten dieser Melancholie gehört zum Beispiel das Gespräch zwischen Claire und ihrer Schwester:
„‘Wie steht’s mit Leo?‘, fragte Mimi gleich. ‚Was erhofft ihr? Was bezaubert?‘
‚Was ich ihm bin, kann ich nicht sagen. Er ist mir Lehrmeister und Psychopompos.‘
‚Psycho-pampas? Was soll das sein? Bist verliebt oder nicht?‘
‚Ich verweigere das Etikett! Aber du meinst, ob das Sexuelle eine Rolle spielt?‘
‚Wenn du so willst – ‚
‚So will ich nicht!‘, erwiderte Claire wild. ‚Ich lehne ab, von Bindungshormonen überflutet zu werden! Der Kopf in einer Schlinge, die man hormonelle Verstörung nennt, den man erst herausbekommt, wenn die Hormone wieder verstummen. Zudem scheint mir gerade bei Leo Vorsicht geboten. Ist sein Jagdinstinkt erst mal gestillt – ‚“. (72f)
In dieser Szene ist alles da: Claire hat noch familiäre und andere soziale Beziehungen, und zum Kleb zwischen Schwestern und Freundinnen gehört seit eh und je „Girls Talk“, also dieser muntere Austausch über die jeweiligen Partnerbeziehungen, von denen die Frauen in diesen Gesprächen einen kurzen Urlaub nehmen, was natürlich insbesondere dann geboten ist, wenn der Partner ein sehr fordernder Mann ist, von dem man sich gerade als Gesamtperson verunsichern lässt, um irgendetwas zu lernen. Zu dieser Sorte von Urlaubsgespräch lädt die Schwester Mimi ihre im Grunde längst an den Leo verlorene Schwester. Claire bedient sich in ihrer Antwort auf die Frage nach der Verliebtheit noch des veterinären Geredes von Bindungshormonen, das ja in der Tat längst alle unsere Alltagskommunikationen zum Thema Liebe dominiert, egal, ob wir für die Idee der freien und ökonomisch selbständigen Frau plädieren oder doch eher für die Hausfrauenehe oder irgendwas dazwischen. Und kaum hat sie als ihre eigene Bindungszurückhaltung proklamiert, dass sie dergleichen nicht wolle – legt schon wieder die Jane-Austen-Frau nach, die sehr genau beobachtet, welche Chancen sie wohl bei dem Versuch, einen Mann an sich zu binden, in diesem Fall hätte, und stellt fest, dass sie hier keine hätte.
Ratlos irrlichtert die erfolgreich emanzipierte und in der Liebe enttäuschte oder doch hingehaltene und ausgewaidete Frau durch die Welt von Kunst, Kultur und Wissenschaft, in der ihr noch so vieles neu ist. Sie muss da mancherlei Unfreundlichkeit erdulden.
Dennoch: Am Ende bekommt sie – nun doch freundlicherweise – etwas, das sie wirklich selbständig macht, etwas wie eine eigene Stimme. Für diese Pointe muss man der Autorin mindestens ebenso dankbar sein wie für den herrlich hinparlierten österreichischen Charme und Schmäh.
Übrigens lohnt es sich, die Videos von Lesungen anzuschauen. Regine Koth-Afzelius liest ganz außerordentlich süffig. Auch am heimischen PC.