1.    Eine schrecklich konsequente Geschichte

Durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2020 ist das Thema Sterbehilfe in Deutschland neu in die Diskussion geraten. Es sei eben doch ein Menschenrecht, in Würde zu sterben, die bisherige Position des Bundesgesundheitsministeriums müsse überdacht werden.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html

Neuerdings gibt es erste Eilanträge auf Ausgabe eines tödlichen Mittels. Neue Möglichkeiten scheinen in den Horizont dessen zu rücken, was im Rahmen von Patientenverfügungen geregelt wird. Wohl auch aus diesem Anlass hat der Deutschlandfunk ein Feature von 2019 wiederholt. In dem Bericht von Ingo Haeb und Roel Nollet geht es mit einer kuriosen Mischung aus Naivität und Dramatik um das, was heute, nach dem gegenwärtigen Stand von medizinischer Forschung und gesellschaftlicher Entwicklung, über die neue „condition humaine“ gesagt werden muss. Zur Sprache kommen zwei „brandheiße“ Themen (Sterbehilfe und Geschlechtsumwandlung) und ein „kühleres“ Thema (die ewig unerfüllte Sehnsucht nach Liebe) – und gemeinsam bilden sie einen Knoten, wie er tragischer kaum sein könnte. Erzählt und dokumentiert wird die Geschichte von Nancy/Nathan Verhelst aus Flandern.  

https://www.deutschlandfunkkultur.de/warum-wollte-nathan-sterben-free-as-a-bird.3720.de.html?dram:article_id=480688

Mit etwas mehr Zeit würde ich mich jetzt auf die Suche nach den Menschen begeben, die den Sterbewilligen damals in seinen letzten Wochen begleitet haben. Die Ereignisse fanden ja vor sieben Jahren statt, und gern wüsste ich, was aus den involvierten Menschen geworden ist. Aber dazu müsste man irgendwo eine richtige neue Reportage unterbringen. Ich lasse es bei einem längeren Blog-Beitrag zum Thema, in dem ich ein paar Reflexionen nachzutragen hoffe, die mir sowohl in dem akustischen als auch in dem filmischen Bericht

(ich habe ihn nach dem Feature auch noch gesehen, Sie können das über diesen Link ebenfalls tun: https://vimeo.com/ondemand/nathanfreeasabird)

schmerzhaft fehlen.

Dass ich das Wort „tragisch“, dessen inflationäre Verwendung ich eher meide, hier hinschreibe, liegt daran, dass in dieser Begebenheit wirklich alle Elemente des Tragischen zu sein scheinen – und dass doch die Lehre, die oberflächlich daraus gezogen zu werden scheint, sich am Ende als eine Farce entpuppt, mit dem „selbstgewählten“ Tod als der hässlich-archaischen Fratze eines verkommenen Freiheitsbegriffs. Ich habe mich eine ganze Weile mit dem „Stoff“ herumgeschlagen, bis ich mich entschließen konnte, etwas dazu zu schreiben, denn auch mir fließen Tränen des Mitleids, wenn ich mir das Elend der verschnittenen Transperson, um deren Geschichte es geht, auf dem Bildschirm ansehe und die Stimm-Dokumente höre. Gleichwohl gibt es von dem, was an dieser Geschichte so entsetzlich archaisch, notwendig, falsch erscheint, keine Befreiung, wenn sich nicht jemand traut, hier wirklich mit scharfem, analytischem Besteck heranzugehen. Selten habe ich es so deutlich empfunden wie nach Ansicht dieser Geschichte: Wir müssen Ideologien zerschneiden, nicht Körper; und mir scheint, das ist tatsächlich so ziemlich die einzige Lehre, die aus dieser Geschichte zu ziehen wäre. Freilich, das Mitleid mit dem betroffenen Menschen ist davon völlig unabhängig und eine unableitbare und irreduzible Wirklichkeit – es ist ebenso wie die Achtung vor seinen Entscheidungen auch etwas, auf das dieser Mensch über seinen Tod hinaus Anspruch hat. Insofern verbeuge ich mich erst einmal, bevor ich dann die sozialpolitische Causa, auf die dieser Dokumentarfilm meine Aufmerksamkeit lenkte, bespreche.

Im Vorspann des Films wird mitgeteilt, dass hier eigentlich der Prozess einer Geschlechtsumwandlung dokumentiert werden sollte. Nancy Verhelst hatte sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschlossen und wollte zu Nathan werden. Und so lesen wir im „Klappentext“ zum Film:

Roel Nollet followed Nathan for three years over the course of a process that ends differently from anything the filmmaker could have imagined. Ultimately, the focus of the film is on Nathan’s final week of life, which is documented in detail. Recordings of Nathan, conversations with his close friends, Nathan’s own audio recordings from the past and news reports about Nathan’s case all serve to complete an inhumanly tragic story that ends humanely.

In diesen Sätzen werden Kritiker*innen der Sterbehilfe und des menschlichen Eingreifens in die natürliche Genitalität eines Menschen einen Offenbarungseid der Humanität sehen: Humanität sei es, mithilfe des aktiv herbeigeführten Todes einen Knoten zu durchschlagen, der doch erst von anmaßender Verfügung über die körperlichen Gegebenheiten und einer dieser gegenüber allzu offenen gesellschaftlichen Haltung zu solcher Schrecklichkeit geschürzt worden ist? Das wird kein konservatives Gemüt durchgehen lassen. Und wer sich in ähnlicher Weise, obwohl grundsätzlich ziemlich „links-liberal“, davon erschrecken lässt wie das konservative Gemüt – der muss sich warm anziehen, wenn er sich damit in seine „fortschrittliche“ und genderbewusste community traut. Meine eigene Entscheidung, mich überhaupt öffentlich und privat dazu zu äußern, beruht darauf, dass mir gerade an diesem besonderen Fall ein Umschlagpunkt (vom Schlage einer „Dialektik der Aufklärung“) erschütternd auffällig wurde. Ist hier nicht einfach nur ein Rückfall in älteste Gefühlsformationen auf der Basis neuester Techniken und sozialer Moden geschehen? Und ist die blanke „Bewusstlosigkeit“ dieser „Tragödie“, die leider im wirklichen Leben stattfand und mit einem wirklichen Tod eines einmaligen individuellen Menschenlebens endete, nicht etwas, dem unbedingt entgegnet werden muss?

Ich neige, wo es um weniger geht, nicht dazu, anderen Leuten meine Überzeugungen aufzudrängen. Aber ich möchte, wo es vielleicht doch helfen könnte, auch ein Wissen oder eine Reflexion nicht einfach nur für mich behalten. Und tatsächlich neige ich zu der Ansicht, dass eine vernünftige philosophische Diskussion, die das Seelische an keiner Stelle zu einem bloßen behandlungsbedürftigen Objekt degradierte, sondern dem betroffenen Menschen mit Wissen, Fürsorge und Respekt begegnet wäre, möglicherweise doch andere Auswege hätte eröffnen können. Wenn das richtig sein sollte – dann müsste man an die Substanz der Diskurse, denen sich die Dokumentation und wohl auch der Mensch, dessen letzte Lebenszeit dokumentiert wurde, überlassen haben, noch einmal sehr kritisch heran. Das hätte dann sogar eine gewisse Dringlichkeit. Es wird hier tastend versucht.

2.    Die Suche nach einer Notwendigkeit

Das erste, was mir in den Selbstzeugnissen von Nathan auffiel, war der Widerspruch zwischen einer immer wiederholten Betonung der Eigenständigkeit seiner Entscheidung und einer nahezu verzweifelten Suche nach einer nicht von ihm selbst abhängigen Notwendigkeit in dem Geschehen: nach einer Notwendigkeit, auf die seine beiden großen Entscheidungen die einzig möglichen Antworten wären.

Die erste Notwendigkeit scheint da, wo der Film einsetzt, schon gesetzt zu sein, und die dafür verwendeten Formulierungen liegen ja auch seit Jahren bereit. Wir hören sie aus Nathans Mund: „Innerlich“ sei er immer ein Mann gewesen, „gefangen“ in einem weiblichen Körper. Nun werde er auch leiblich zum Mann, „alles komme an seinen Platz“. Er erzählt, wie glücklich er war, als ihm die Brüste abgenommen worden waren, und er hofft, nun ähnlich glücklich zu sein, wenn ihm die primären Genitalorgane, Uterus und Ovarien, entfernt werden. Dieser Eingriff sei die Voraussetzung dafür, dass er sich in der Meldebehörde mit einem neuen Pass ausstatten lassen und fortan auch offiziell als Mann gelten könne. Es ist ihm sehr wichtig, dass das passiert. Es geschieht, er meldet sich, zeichnet seinen neuen Pass und zeigt das so erzeugte Glück dem Filmenden sehr deutlich.

Nun kennen natürlich alle diese Erleichterung, wenn ein Problem erkannt, eine Diagnose gestellt ist und die Lösungsversuche beherzt angegangen werden können. Hier hat also ein Mensch, der sich sein Leben lang mit allen möglichen (und wirklich schlimmen) Schwierigkeiten herumschlagen musste, ein Mensch mit einer völlig verständlichen Erzählung von einem verzweifelten Mädchen, das von der Mutter (von einem Vater wird zunächst nichts berichtet) erklärtermaßen deswegen nicht beschützt und nicht geliebt wurde, weil es kein Junge war, die Antwort auf seine Not im Alter von 40 Jahren gefunden: Vielleicht gäbe es die Möglichkeit, doch noch geliebt zu werden und sich selbst zu lieben, wenn endlich das richtige Geschlecht da wäre?

Im Film werden immer wieder Kassettenaufnahmen eingespielt, auf denen Nancy/Nathan mit noch deutlich weiblicher Stimme davon erzählt, wie sie von ihrer Mutter als Fettsack degradiert und von ihrem Bruder Freddie über Jahre vergewaltigt wurde. Die Erzählungen von der Lieblosigkeit der Mutter werden mit anklagenden Zitationen („Nancy war schon als Baby hässlich“) illustriert. „Ist das Liebe, wenn man mit einem Besenstil an die Wand klopft und ‚Steh auf, Fettsack‘ ruft“, fragt Nathan. Natürlich ist das nicht Liebe, denken sicher alle Zuschauer*innen, und tatsächlich gibt es in der Erzählung so schlimmen Stoff, dass man unwillkürlich solidarisch mit dem Kind empfindet. Nicht erzählt wird freilich, wie diese wirklich beklagenswerte Nancy genau auf die Idee kam, ihr Geschlecht „anzupassen“ und wann und wie überhaupt der innere Mann in ihr gewachsen ist. (Das ist ja keineswegs selbstverständlich, nicht alle ungeliebten Mädchen und auch nicht alle Vergewaltigungs- und Inzestopfer bauen sich innerlich dann als „Mann“ wieder auf). Man erfährt auch nichts über etwaige Liebesobjekte des Transmenschen. Was man über „den Mann“ erfährt ist lediglich, dass er idealisiert wird: Mannsein erscheint als ein unbedingt zu erreichendes Ziel, eine Erlösung, eine endliche Übereinstimmung von innen und außen. Hormone nehmen, den Bartwuchs spüren, sich rasieren, Attribute der Männlichkeit verwenden, schließlich dann auch ganz und gar und mit allem, was dazu gehört, Mann sein. Das tut not. So scheint es. Das wird alle Not wenden, wenn erst einmal alles seine Ordnung hat, alles „am richtigen Platz“ (eine Formulierung von Nathan vor der OP) ist.

Menschen haben es gern, wenn alles an seinem Platz ist. Sie tun sich nämlich schwer mit der Freiheit. Sie haben Mühe, einzuschätzen, was notwendig, was frei ist, und am liebsten wäre ihnen, gerade die Freiheit selbst wäre nichts weiter als Einsicht in die Notwendigkeit (ein Gedanke, über den ganze philosophische Bibliotheken geschrieben wurden). Lieber als selbst zu bestimmen, möchten sie glauben, einer Bestimmung zu folgen. Das hängt, psychologisch gesprochen, damit zusammen, dass Menschen als sehr abhängige Wesen geboren werden und diese Abhängigkeit von den anderen ihrer Art nie so ganz ablegen.

„Es muss mich erst jemand erwählt haben“, so fasst Marguerite Duras in Gespräch im Park[1] das zusammen, was psychologisch als die erste Aufgabe der primären Bindung im Menschenwesen gilt: dass mindestens eine erwachsene Person ein kleines Kind annimmt, begrüßt, „bei seinem Namen ruft“, wie es die biblische Formulierung (Jes 43,1) ausdrückt, und Zuständigkeit übernimmt. Wo dies fehlt, so sagen die Psycholog*innen, da sind die Chancen für einen Menschen, ein befriedigendes Leben zu führen und selbst einmal für sich und andere entsprechende bejahende und erwählende Verantwortung zu übernehmen, nicht sehr gut, die Chancen, einmal unter einer psychischen Erkrankung zu leiden, hingegen sehr. Wer gegen ein drohendes Nichts, gegen ein Zuviel an erlittenem Hass, ein Zuwenig an empfangener Liebe anzukämpfen hat, sucht gegen die „nichtende“ Kraft der früh erfahrenen existentiellen Verneinung des eigenen Lebens oftmals sozusagen gleichstarke Rettungsanker. Das kann die süchtig-masochistische Liebe zu einem im weitesten Sinne missbrauchenden Elternteil und späteren Ersatzpersonen sein; das kann die Bereitschaft, sich bis zum Selbstopfer in den Dienst einer „großen Sache“ zu stellen sein (ein ganz gewaltiges Problem in sehr kriegerischen Gesellschaften oder solchen, die geradezu systematisch Selbstmordattentäter heranziehen), das kann Selbstverletzung sein oder irgendeine Form von Sucht, oder auch, eher positiv gewertet, die leidenschaftliche und bedingungslose Hingabe an einen Sport oder eine Kunst, bei denen die Selbstverletzungen durch Stress, Überlastung, Doping oder Unfälle als höhere Notwendigkeiten sozusagen gratis mitgeliefert werden. Es kann auch ein banaler Amoklauf oder eine andere Form des Selbstmords, bei dem andere mitgenommen werden, sein. Ob in der Gestalt des religiösen Fanatismus oder im selbst- und andere überfordernden „24/7“- Leistungswahn von Vorstandsetagen – ein solches in der Tendenz selbsthassendes und selbstzerstörendes, eine frühe negative Erfahrung unter Zwang wiederholendes Verhalten wird immer dann tatsächlich Anerkennung einbringen, wenn es mit einer präsentablen Notwendigkeit verknüpft wird.

Nancy Verhelst hatte offenbar lange nicht die Kraft, ihrem von Hass und Selbsthass früh und nachhaltig beschädigten Leben eine solche, Notwendigkeit suggerierende und damit entlastende Richtung zu geben. Sie muss über lange Zeit von unabgefederter Depression, Selbstentwertung und Unsicherheit bestimmt gewesen sein. Dabei bleibt es in Film und Feature bei einer sehr oberflächlichen Rekonstruktion der Kausalkette: Die Mutter hat die „hässliche“ Tochter nicht geliebt, weil sie selbst „hartherzig“ und weil das Kind kein Junge war, der Vater hat sie zumindest einmal ein bisschen verteidigt – nämlich als Nancy den Vater ordnungsgemäß über die geplante Geschlechtsumwandlung informierte und seine damalige Frau darauf herabsetzend reagierte. Deswegen macht Nathan kurz vor seinem Ende noch ein kleines Ritual in Erinnerung an den inzwischen verstorbenen guten Vater. Wie er sich vor dieser einen Szene zu ihr und zum Rest der Familie verhalten hat, erfährt man nicht. Er sei immer zum Hafen gegangen, heißt es nur, und bevor er sich selbst töten lässt, geht Nathan noch einmal auf seinen Spuren. Wird das für ausreichend gehalten, eine männliche Identifizierung mit der daraus folgenden „notwendigen“ Anwendung harter medizinischer Maßnahmen plausibel zu machen?

3.    Die Geschlechtsumwandlung als ersehnter Zugang zu „richtig und falsch“.

In den Benelux-Ländern ist in vielen Hinsichten sowohl die offizielle Gesetzgebung als auch die Regelung des sozialen Lebens durch ungeschriebene Gesetz extrem liberal. Wenn eine Frau sich sexuell zu Frauen hingezogen fühlt, kann sie das ebenso öffentlich ausleben wie alle möglichen anderen Neigungen. Sie hat freie Berufswahl und im Falle psychischer Probleme Zugang zu allen möglichen Formen der Behandlung. Sie kann – und soll dann auch – ihr Leben in die Hand nehmen, ob sie nun bleibend geschlagen ist mit etwas wie der Tatsache, dass nie jemand „sie erwählt“ hat, oder ob ein anderes Problem sie bedrückt. Will sie Motorrad fahren, wird man ihr sagen „Go for it“, und die Grenze, die ihrer Entscheidungsfähigkeit gesetzt ist, ist in den meisten Fällen tatsächlich ihre Leistungsfähigkeit. Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht auch in diesen Ländern noch Sexismus gäbe, es soll kein einziges soziales Problem kleingeredet werden. Aber verglichen mit der Mehrzahl der anderen Staaten kann eine Frau in den genannten Ländern zwischen vielen Lebensmöglichkeiten wählen. Niemandem wird ohne größere Einsprüche erlaubt werden, ihr vorzuschreiben, was „richtig“ und was „falsch“ sei. „Wenn es sich für dich richtig anfühlt, ist es richtig.“ Das ist das Credo unserer liberalen Gesellschaften. Und ganz im Ernst: ich glaube das meistens auch.

Was aber, wenn sich für jemanden nichts wirklich richtig anfühlt? Dann ist alles irgendwie falsch – und wieder erscheint ein ursprünglich mit Menschheitsbewusstsein formulierter Satz als individualisierte Farce, die hier in tragischem Ernst mündet: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Wo Adorno noch eine kapitalismuskritische und an einer messianischen Weltsicht orientierte Unterscheidung von „richtig“ und „falsch“ in der Ordnung der Gesellschaft im Sinne hatte, ist in den gegenwärtigen Transgender-Diskursen aber ein völlig simplifizierter und selbstreferenzieller Begriff von „richtig“ und „falsch“ durchgeschlagen. Wo die kritische Theorie schließlich die „bestimmte Negation“ verlangt, um aus einer allgemeinen Kritik zur konkreten Politik zu finden, sucht die verwirrte Seele eines an sich selbst und einer als ihm persönlich feindselig gegenüberstehend wahrgenommenen Umgebung ein konkretes Problem, an dem sie doch ansetzen kann, um sich zu ermächtigen. Es müsste erst etwas gefunden werden, was besonders falsch ist, damit von all dem anderen Falschen wenigstens das eine oder andere doch auch als halbwegs richtig gelten könnte. Und plötzlich ist es wieder – wie in allen religiösen Fanatismen und leibfeindlichen „Geist“-Vorstellungen – der Körper, der falsch ist. Nur dass jetzt nicht die gesamte Geschlechtlichkeit verworfen wird wie in den Keuschheitsdelirien diverser Kulte nicht nur in der Spätantike, sondern ein konkreter, „mein“ Körper. Nebenbei ist es in diesem Fall natürlich die Weiblichkeit, die von der Mutter an der Tochter und von der Tochter an der Mutter unerbittlich abgelehnt wird.

Vor diesem Hintergrund tönt in meinen Ohren die Rede davon, jemand sei „im falschen Körper“, überaus verräterisch. „Wenn ich ein Junge wär“ …,  das hat nicht nur Nina Hagen laut herausgelärmt (https://www.youtube.com/watch?v=5nRbS1zoyqA), das haben wohl alle Mädchen, die in Gesellschaften heranwachsen mussten, in denen Jungen viel und Mädchen wenig erlaubt ist, schon geseufzt. Noch heute, noch mitten in den liberalen westlichen Gesellschaften 2020, gibt es für ein Mädchen oder eine Frau genug Gründe, ab und an zu denken, wie schön wäre es doch, die elementare „Richtigkeit“ des männlichen Geschlechts zu haben. Man würde sich selbstverständlicher wertgeschätzt sehen, spräche lauter, wäre der bessere Kandidat in allen möglichen Wettbewerben usw. Zugleich sehen wir sowohl in diesen westlichen als auch (und vielleicht erst recht) in den gewaltaffinen autoritär patriarchalischen Gesellschaften das Elend der dominanten Männlichkeit und all derer, die da herausfallen, nicht mithalten können, ewig herumgeschubst werden usw. Und ob sie nun den patriarchatsaffinen Ausweg (prestigiöse Ehe und Geburt möglichst mindestens eines Sohnes) oder den patriarchatskritischen Ausweg wählen – die Mehrheit der Frauen kommt irgendwann dahin, sich mit ihrem Geschlecht gut einzuleben, findet einen Weg, sich damit „richtig genug“ zu fühlen. Nicht so Nancy Verhelst. Über Jahre scheint sie sich in psychologischer Behandlung befunden zu haben – aber darüber wird wenig gesagt. Meistens, so erzählt Nathan an einer Stelle, sei Nancy in ihrem Leben allein gewesen. Alle ihre Probleme nicht lösbar – und auch nicht erträglich. Eine wichtige Differenzierung: Denn die meisten Probleme, die den Menschen aus ihrer relativen Offenheit und ihrem Bewusstsein von sich selbst entstehen, sind nicht wirklich lösbar, sondern müssen ausgehalten werden. Man arbeitet sich an ihnen ab, hat sie aber selten ein für alle Mal erledigt. Die Furcht vor dem Tod pflegt uns ein Leben lang zu begleiten, und die Möglichkeit, uns von unserer sozialen Umgebung zu entfremden, ebenso. Was über Jahre gebaut wurde, kann in einem Augenblick zusammenkrachen, und umgekehrt lässt sich kein Kind im Schnellverfahren großziehen. Alle diese Probleme werden kulturell unterschiedlich gehandhabt, erträglich gemacht, reguliert – und es wird immer neue Versuche geben, sie zu regulieren, ohne dass einer der letztgültige wird sein können. Lösbare und unlösbare Probleme existieren seit Menschengedenken nebeneinander – aber die Weisheit, zwischen beiden zu unterscheiden, kann auch gute und schlechte Zeiten in einem Menschenleben haben.[2]

Das Problem der überwiegenden Zweigeschlechtlichkeit der Menschen galt lange Zeit auch in der Moderne westlichen Typs als eines, das zu ertragen und in den kulturellen Prozessen so verbindlich wie nötig, so offen wie möglich zu verwalten wäre. Die vermeintlich feste Grenze wurde nicht nur durch die oftmals unter ihrer Zweideutigkeit schwer leidenden „zwittrig“ geborenen Menschen schwer in Frage gestellt, sondern auch von der Fantasie vieler Menschen, denen die gesellschaftlich vorgeschriebenen Geschlechterrollen als zu eng erschienen. Kulte der Androgynität und der exzessiven Auslegung geschlechtlicher Zuschreibungen finden sich auch da noch, wo verzweifelt ein Regime des Eindeutigmachens als religiöse Reaktion oder konservative Verschmocktheit durchgesetzt werden soll. Gegen rigorose Engführungen der Geschlechterdefinitionen aufzubegehren, war immer ein Anliegen aller Aufklärung – denn Freiheit galt ihr doch als die Möglichkeit, mit der condition humaine so selbstbestimmt wie möglich umzugehen, ohne sie als gegebene Bedingung des Daseins in Frage zu stellen.

 Als aber die Medizin so weit war, dass sie geschlechtsverändernde Behandlungen durchführen konnte – und nun dann auch in möglichst vielen Fällen erproben musste, wenn sie darin besser werden wollte – geriet die mehrheitlich zweigeschlechtlich organisierte Bedingung des menschlichen Lebens auf die Seite der lösbaren Probleme. Das hatte und hat fatale Folgen für das Denken des Unterschiedes. Denn nun konnten soziale Ungerechtigkeiten im Verhältnis der Geschlechter zueinander noch einmal anders individualisiert werden. Es hieß nicht mehr politisch: „wenn du dich in deinem Körper falsch fühlst, ändere die Verhältnisse, in denen als falsch gilt, was für dich richtig wäre“. Sondern ein „falscher Körper“ war etwas, das man mithilfe modernster Technik regeln konnte. Man musste nur deutlich und überzeugend genug dafür einstehen, dass das, womit man lebte, wirklich richtig „falsch“ war. Das ist eine erstaunliche Rehabilitierung von „richtig und falsch“ in den angeblich liberalsten Kreisen: Gerade der konstruktivistische „Gender“-Feminismus hält alles für konstruiert – und sieht also normalerweise keine „objektive“ Basis für „richtig oder falsch.“ Alle Zuschreibungen an geschlechterkorrektes Verhalten wurden in den vergangenen Jahrzehnten minutiösen Analysen der Rollenklischees aufgehoben – nun kamen sie plötzlich massiv zurück: nicht mehr nur in der künstlich übertriebenen „gefälschten“ „Weiblichkeit“ der Transvestiten, die viele schöne ästhetische Möglichkeiten boten, oder in der (ästhetisch ebenfalls inspirierenden) übertriebenen, „gefälschten“ „Virilität“ der „Butch“, die immer mit dem Bewusstsein der Imitation und Camouflage unterwegs waren – sondern endlich wieder mit einer bierernsten Augenwischerei: Endlich durfte schneidig-scharfes logisches Denken wieder als „männlich“ und fürsorglich-unterwürfig-manipulatives Verhalten als „weiblich“ kodiert werden. Ballten sich bestimmte „männliche“ Merkmale in einer Frau, dann „war“ die betreffende Person nur noch „äußerlich“ eine Frau, „innerlich“ aber längst ein Mann. Und den Widerspruch zwischen Innen und Außen – den musste man nicht mehr aushalten, der war nicht mehr ein Element der vielfältigen Komplexität menschlichen Seins, sondern etwas, das eindeutig gemacht werden kann. Zwar gelten moralische Zuschreibungen dem vorherrschenden Szientismus des seelischen Apparates nach wie vor als wenig hilfreich. Aber mehr oder weniger „ontologische“ Zuschreibungen offenkundig nicht mehr?

Was in der traditionellen Psychoanalyse noch als die sexuelle Fantasie prägenitaler Phasen durchging – aktive Penetrationsfantasien bei Frauen und passive Penetrationsfantasien bei Männern, was in der Rollentheorie gesellschaftskritisch gewendet wurde – nun war es ein Hinweis darauf, dass irgendeine (vorsichtshalber nie genannte oder gar näher spezifizierte) metaphysische Instanz apodiktisch verordnet hatte: diese Seele ist „eigentlich“ weiblich und nur in einem männlichen Körper „gefangen“ oder umgekehrt.

Schon die seelischen Eingriffe, die wir in therapeutischen Prozessen sozusagen am offenen Herzen erlauben, nimmt niemand auf sich, der nicht zuvor einen gewissen Leidensdruck empfunden hat. Um wieviel weniger wird sich jemand ohne erheblichen Leidensdruck in eine solche drastische Gefahr für Leib und Leben, wie es eine Geschlechtsumwandlung immer noch ist, begeben. Freilich ist seelisches Leiden immer soziales Leiden (ein Umstand, der von einer die psychischen Krankheiten als Phänomene am einzelnen Objekt medizinisierenden Psychologie systematisch ignoriert, von der systemischen Psychologie hingegen unermüdlich betont wird). Wie andere mit dem Leiden umgehen, von dem ihnen ein Mensch erzählt – das ist sicher nicht ohne Einfluss. Ein aggressiv mit „richtig“ oder „falsch“ operierender sozialer Resonanzraum kann da labile Menschen schon mal in Experimentier- und Behandlungsmasse verwandeln. Angesichts erschütternder Berichte von geschlechtsverändernden Operationen bereits an Minderjährigen und erstaunlich vieler Transgender-Fälle ausgerechnet in der US-Army habe ich doch den Impuls, Menschen argumentativ gegen falsche Hoffnungen und zu leichtfertige Verfügung über ihre Körper in der Folge relativ gewöhnlicher Irrungen und Wirrungen in kritischen Lebenslagen und Lebensphasen zu stärken. Nur, auf welcher Grundlage könnte denn jemand schützend, verhindernd, relativierend, zur Suche nach anderen Wegen ermunternd eingreifen, wenn alle Welt dem leidenden Menschen einredet oder ihn darin bestärkt, dass eine medizinische Maßnahme dieser Tragweite einen „neuen Menschen“ aus ihm machen werde? Ich kann hier nur weitere kulturhistorische Gedanken beisteuern. Tatsächlich sind diese Wünsche nach einer „Neugeburt“ und nach einem neuen Leben, in dem „alles am richtigen Platz ist“, tief in den calvinistischen Kulturen gerade der Länder verankert, in denen in diesen Fragen die liberalste Gesetzgebung durchgesetzt werden konnte.

4.    Neugeburt und Tod

Ein neues Leben sollte für Nathan beginnen, und er fing schon mal an, nicht nur mit den Operationen und Hormonbehandlungen, sondern auch damit, den alten Menschen zusammen mit dem alten Namen aus seinem Leben zu verbannen. Sehr beeindruckend machen er und seine Freunde in dem Feature deutlich, wie streng es allen verboten ist, den Namen Nancy noch zu verwenden. Wer Nathan liebt, spricht nicht mehr von Nancy. Auch das Erwachen aus der Narkose nach der Entfernung der Brüste schildert Nathan wie ein erweckter Christ sein Gefühl nach der Taufe. Tatsächlich ist die Metaphorik der „Neugeburt“ unter strikter Verpönung alles dessen, was vor der großen Lebenswende war, für die Religionsphilosophien natürlich ein vertrauter Topos, der im Christentum und allen Konversionsreligionen eine große Rolle spielt. Und in der Konversion, in dem „Ersäufen des alten Adam“, wie Luther es ausdrückt, ist natürlich immer die Idee des Menschenopfers noch enthalten: der alte Mensch wird geopfert, damit der neue geboren werden kann, und es ist ausgerechnet der strenge Monotheismus, der diesem Glauben zuerst eine Schranke setzt. Weil nämlich, wie Hermann Cohen es formuliert, der geopferte Mensch in seiner neuen Gestalt „gottgleich“ werden wolle, was er eben nicht soll. Denn die menschliche Aufgabe auf Erden besteht in der Tradition des so verstandenen ethischen Monotheismus gerade darin, im Bewusstsein seiner Grenzen doch in eine gute Beziehung zum Unbegrenzten, das der Mensch nicht nicht denken kann, zu treten. (Und diese Beziehung ist keine „identifizierende“, sondern eine zwischen verschieden Bleibenden, was auch in der Frage der Geschlechter manchmal das Denken erleichtern könnte). Dieses ist hier natürlich nur die allerkürzeste Formulierung des monotheistischen Grundgedankens – und dieser Grundgedanke ist ein aufklärerischer Gedanke. Als solchen brauche ich ihn, um die verzweifelte Verwirrung des angeblich so „humanen“ Tötungsaktes an Nathan Verhelst ein bisschen aufzuklären.[3]

Tatsächlich kann die Religions- und Aufklärungsgeschichte seit der Hebräischen Bibel und über die nachfolgenden Jahrhunderte als eine Geschichte des im Namen von Gott, Weisheit und Vernunft geführten Kampfes gegen das (identifizierende) Opfer gelesen werden (für die es vielleicht auch in anderen Religionen und Kulturen Parallelen gibt, die noch unterschätzt werden). Aber ausgerechnet mit der Medizinisierung der seelischen Vorgänge in den aufgeklärtesten und liberalsten Gesellschaften scheinen wir an einem Punkt angekommen zu sein, an dem von dem erhabenen Begriff der Freiheit und dem gleicherhabenen der Verantwortung in signifikanten Fällen wie diesem nichts weiter übrig bleibt als die Forderung des letzten Opfers. Wie es sich für eine Opferforderung gehört, ist sie in Dunst und Nebel gehüllt. „Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf in die Augen.“ Dieses Zitat aus Klopstocks Gedicht über die Grazien stellte Walter Benjamin seinem Essay über Goethes Wahlverwandtschaften als Motto voran. Und meinte damit die blinde, aber irgendwie als „notwendig“ empfindbar gemachte Liebeswahl der Romanfiguren Ottilie und Eduard. In der Medizinisierung der Verwirrungen über die eigene „Geschlechtsidentität“ ist aber vor jede Wahl eines möglichen Anderen, mit dem das Ich sein Leben und seine Lust teilen möchte, vor allem eine Wahl des eigenen Geschlechts gesetzt. Es genügt nicht mehr, das gegebene Geschlecht einfach anzunehmen und damit so autonom wie möglich und so ergeben wie nötig, allein oder mit anderen, das geschlechtliche Leben zu gestalten – vielmehr ist, wenn man mit einer (durch die Möglichkeit der Umwandlung fast zwangsläufig) wieder enger werdenden sozialen Definition des Geschlechts nicht mehr klarkommt, ein anderes Geschlecht zu wählen. Der Weg zu diesem neuen Geschlecht ist riskant und mit körperlichen Leiden verbunden. Opfer, die zu bringen sind? Und wenn es nicht gelingt, wenn die Opfer umsonst waren – dann ist auch das Leben selbst als dieses Individuum, das man geworden ist, zur Wahl gestellt? Ein Leben als Problem, das gelöst werden muss?

Die mögliche letzte Wahl hat gerade wegen der Einführung von „richtig und falsch“ in Bezug auf das Geschlecht und gerade wegen der Sehnsucht des leidenden Menschen nach einer Unterwerfung unter die Notwendigkeit in dieser Geschichte den ganz und gar nicht humanen Beigeschmack der Unterwerfung am Ende unter eine archaische Opferforderung. Da Nancy auch als Nathan dem Unglück, das dieses Leben von Beginn an „schicksalhaft“ begleitet hat, nicht entkommt, da er mit dem Filmer auch seine Freund*innen als eine Art „Chor“ zu Zeug*innen seiner Verstrickung gemacht hat, scheint vielmehr nichts anderes mehr übrig zu bleiben, als Gehorsam gegenüber der zur Notwendigkeit längst gewordenen „Möglichkeit“ , sich nach allen Regeln der Medizin „in Würde“ aus der Welt zu schaffen: freiwillig natürlich und selbstverantwortet. Dass der Chor dazu singt, „wir hoffen so sehr, dass er seine Entscheidung rückgängig macht“, kann ich nicht wörtlich nehmen. Es klingt in meinen (vielleicht ja durch zu viel religionshistorische Studien verdorbenen) Ohren völlig ritualistisch und scheint mir keineswegs auch nur eine winzige Stelle für eine solche Entscheidung (doch am Leben zu bleiben!) übrig zu lassen. Am schärfsten wird das vielleicht deutlich, als eine der Freundinnen (sie sind selbst geschlechtlich nicht wirklich eindeutig, so redet Patricia Nathan einmal mit vieldeutigem Blick „von Mann zu Mann“ an) darüber spekuliert, ob Nathan vielleicht die Geschlechtsumwandlung nicht aus vollem Herzen gewollt hätte – sondern eben „nur“, weil er hoffte, als Mann doch noch von seiner Mutter geliebt zu werden. Wie nicht mitlesen: Wenn er es nur ganz wirklich und richtig und um der erhabenen Sache (ein Mann werden!) selbst willen gewollt hätte, wäre es auch gut gegangen?

Nicht nur „richtig“ und „falsch“ sind wieder eingeführt, nicht nur der Purismus der reinen Motivation, nicht nur eine geradezu „götzendienerische“ Anbetung des bloßen Mannseins, auch die tragische Notwendigkeit hat längst wieder die Herrschaft an sich gerissen – und nur in ihrem Sinne ganz „richtig“ sagt Nathan: „Es ist zu viel passiert. Wenn ich mich ansehe, ekele ich mich vor mir selbst.“ Er spricht da, wie mir scheint, nicht nur von seinem missratenen Penis. Er nimmt damit auch vorweg, wie es ihm gehen würde, wenn er sich nach dieser großen dramatischen Inszenierung umentscheiden und dem selbstgewählten Tod von der Spritze spränge: er hätte die Liebe auch dieser unvermuteten neuen Freundinnen und Freunde, die er als todgeweihtes Opfer in vollen Zügen genießen darf wie nur je ein Ersatzkönig in den entsprechenden Menschenopferritualen vergangener Jahrhunderte, enttäuscht und verwirkt.[4] Er wäre danach nicht nur ein durch eigene „Schuld“ verstümmelter Mensch ohne definiertes Geschlecht, er wäre außerdem ein weiteres Mal und womöglich für den Rest seines Lebens ein gehasster und nichtliebenswerter Mensch. Diesmal aber nicht, weil er wäre, was er als Kind war, ein vom Schicksal benachteiligtes flandrisches Mädchen – sondern weil er einen Weg, den er selbst eingeschlagen hatte, nicht zuende gegangen wäre. Damit wäre er sehr schnell wirklich zu einem „Falschen“ geworden, der die „Richtigen“ in ihrer Feier stört? Des Todes oder eines Lebens in Verachtung schuldig?

Vielleicht hat Nathan seine soziale Situation in dieser Hinsicht richtig eingeschätzt. Wäre er ein richtiger Mann geworden, wie er es gehofft hatte, dann hätte er vielleicht tatsächlich irgendeine hingebungsvolle aufopferungsvolle Liebe gefunden. Immerhin beschimpfen sich von den Freundinnen einige schon als „egoistisch“, weil sie „ja nur für sich“ wollen, dass er seine Entscheidung ändert, während für ihn selbst das Leben dann ja als eine Qual weiter gehen würde. Prinzipielle „nichtegoistische“ Bereitschaft zu unbedingter Hingabe, vielleicht ist sie gerade bei Transfrauen, die ja eine besonders feste, sozusagen notwendige Auffassung von der eigentlichen Aufgabe richtiger Frauen in der Welt haben dürften, am ehesten zu hoffen? Wäre also potentiell durchaus da? Vielleicht. Aber würde sie tragen, wenn er wirklich als Verschnittener weiterleben würde, noch mal 40 Jahre? Mit weiteren Operationen, bis irgendeine erträgliche körperliche Gestalt hergestellt wäre, und auf ewig abhängig von allen Arten therapeutischer und pharmazeutischer Zuwendungen? Der Gedanke kann sich im Prozess von Behandlungen und Film und Diskurs nicht entwickeln, schon die Frage droht, ins Obszöne abzugleiten. Wo immer ein lebensbejahender Gedanke oder die Perspektive eines aufgeklärten, selbstbewussten Auswegs in der Dokumentation auftaucht, wird sogleich der freundliche Mediziner eingeblendet, Prof. Dr. Wim Distelmans. Dieser erklärt in einigen Wiederholungen, warum auch bei unheilbaren psychischen Leiden die Sterbehilfe der humanste Ausweg ist. Damit kommt noch einmal ein weiteres Dogma zum Zuge: Psychisches Leiden, so sekundiert auch eine der Freund*innen, sei nicht so sichtbar wie etwa ein Beinbruch, aber es sei genauso schwerwiegend wie physisches Leiden, das möge die Welt bitte einsehen. Endlich. Dann hätte sie mehr Verständnis. Erlösung ist möglich. Man muss halt sterben.

Hier liegt vielleicht die ultimative Augenwischerei der Geschichte und ihrer Darstellung. Die ganze proklamierte Liebe der kleinen Gesellschaft um Nathan, die ganze proklamierte Freiheit, das Geschlecht zu wählen und sich dafür zu entscheiden, bei Scheitern auch den Tod zu wählen, könnte vor allem ein Rückfall in uralte Opferrituale sein. Nathan scheint das verstanden zu haben, mag es ihm auch nicht letztlich bewusst sein: er kann es seinen Freund*innen und dem Filmer nach allem nicht antun, weiter zu leben. Er hat sich in die Konstruktion, dass er „innerlich“ tot sei, hineingeredet – und er wird auch dieses „Innere“ in der „äußeren“ Welt realisieren, denn diese calvinistische Pflicht zur Übereinstimmung von Innen und Außen bei gleichzeitig immer vorausgesetzter Spaltung kann er nicht kritisieren. Seine letzten Wünsche für die Freund*innen und sogar für die böse Mutter sind von selbstloser Weisheit. Man wird sich seiner auf die beste mögliche Weise erinnern.

5.   Epilog

Die biblische Kampagne gegen das Opfer beginnt mit der in Gen 22 erzählten Geschichte von Abraham, der angeblich seinen Sohn opfern soll und dazu auch bereit ist. Damit die Menschen, die voll Frömmigkeit und Autoritätsglauben ihre Erstgeburt opfern, wenn sie Gefahr abwenden wollen, von dieser Barbarei erlöst werden können, ohne in die Schuldgefühle zu verfallen, die uns bleiben, wenn wir vor schmerzhaften Forderungen zurückgeschreckt sind, muss der erste Nicht-Opferer nicht nur von Gott selbst von dieser Forderung entlastet worden sein. Er muss auch ein besonders frommer, besonders opferbereiter Mann gewesen sein, dessen erwähltes Opfer ein besonderes, nämlich das einzige geliebte und bereits nur wundersamerweise geborene Kind sein. Und auch mit dieser trickreichen Wendung hat es wohl noch eine ganze Weile gedauert, bis die Menschen rings um das Gehinnom-Tal wirklich aufhörten, ihre ersten Kinder zu schlachten. Aber immerhin, irgendwann hörten sie offenbar damit auf. Ich bleibe in vielem, was diesen Film und die darin dokumentierte grauenvolle Geschichte angeht, so ratlos, wie ich energisch kritisch bleibe mit den in meinen Augen verhängnisvoll unterreflektierten Diskursen. Vielleicht würde ich mir für die Beratungsstellen zur Sterbehilfe ähnlich wirksame Geschichten wünschen wie Gen 22, damit mehr als nur die bisher 78% der beratenen Patient*innen vom Selbstopfer Abstand nehmen. Der erste Keim zu einer solchen Geschichte müsste die vermeintlichen Notwendigkeiten aufbrechen. Seine Wahrheit lautete nicht: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Sie lautete vielmehr: „Hier stehe ich, ich kann auch anders. Und das ist gut so.“ Aber der Text, in dem diese Formulierung eine Argumentation zur Bejahung der Geschlechtlichkeit und der Weiblichkeit und des Lebendigen in all seiner Unordentlichkeit trägt[5], ist natürlich längst „veraltet.“


[1] Marguerite Duras, „Gespräch im Park“, aus dem Französischen von Gerda von Uslar, in: Dies. Dialoge FfM 1966, S. 7-78, hier S. 38ff.

[2] Nicht umsonst ist insofern das berühmte Gelassenheitsgebet eben als Gebet formuliert, nicht als „Satz“ im Sinne des Satzes des Pytagoras: https://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet

[3] Und natürlich gibt es längst stapelweise soziologische Texte auch über die Abwanderung des religiösen Erbes ins Unbewusste (hingewiesen sei auf https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-18924-6_5). Aber das hier ist ein Blog, und mein Ehrgeiz, mich kostenlos und unverbindlich in die Eingeweide der Wissenschaftsspezialisierungen (die ich hochrespektabel finde, soweit sie reichen) „comme il faut“ einzuschreiben, ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich geschrumpft, aus Gründen. Lassen Sie uns vielleicht die diversen Schreibweisen ebenso nebeneinander existieren wie die verschiedenen Glaubens- und Liebensweisen?

[4] Zum Ersatzkönigtum zum Beispiel: https://ixtheo.de/Record/1523183985.

[5] Gemeint ist „Nichtich“ von Christina von Braun. https://www.aufbau-verlag.de/index.php/nicht-ich.html  Sie setzt sich in diesem bereits 1986 erschienenen Buch auf die Spur von „Hysterika“ und Anorectikerin und die Zerbrechlichkeit des sexuellen Begehrens in der Geschichte des Rationalismus. Ein wichtiger Beitrag zur Dialektik der Aufklärung. Weitere werden nötig sein.

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