Wie modern mutet diese Musik an, die vor 300 Jahren komponiert wurde! Mein erster Impuls war: bringt den Flügel in den nächsten Jazz-Club und es wird ein Feuerwerk wippender Schuhspitzen und ein ausgelassenes Schnalzen und Stampfen geben. Doch alle Clubs sind geschlossen, und die Konzerthäuser auch. Vor mir sehe ich das Oval des Pierre-Boulez-Saals in Berlin, in dessen Mitte jemand diese Fantasie Bachs am Flügel spielt, tatsächlich erst einmal nur jemand, es ist fast egal wer, Hauptsache überhaupt jemand, und das Publikum wird mehr und mehr kerzengerade in die Stühle gedrückt und gleichzeitig heraus geschleudert, es weiß nicht, was mit ihm geschieht, es spürt nur eine Befreiung. Endlich dürfen wir wieder gemeinsam mit den Musikern in einem Klang- und Spürraum sitzen, in dem wir gemeinsam den Geruch von Ebenholz und Aufregung atmen und gemeinsam jedes Knistern und Hüsteln und jedes Mucksmäuschen hören, selbst wenn es ganz still ist, endlich wieder in so einer Wirklichkeit, wo alles wirkt und webt, uns ergötzen an Bachs ungeheurem Genie. Und ich erinnere mich in diesen Wochen, in denen aus unterschiedlichen Gemütslagen heraus eilig Vergleiche mit Kriegszeiten gezogen werden, an die Erzählungen aus dem Berlin von 1945, als der Krieg endlich vorbei war. Es kam eine harte, entbehrungsreiche Zeit der Not – aber die Theater und Konzerthäuser öffneten ihre Türen, und die Menschen strömten und strömten und füllten die Plätze und einige waren erschüttert und aufgewühlt von der Freude des Überlebens, nicht nur des eigenen. Nein, auch diese wunderbare Musik hatte überlebt, die ihnen endlich eine andere Gemeinsamkeit gab als die Brüll-, Kampf- und Leidensgemeinschaft der wahnsinnigen 12 Jahre zuvor.
All dies kommt mir bei der Bach-Fantasie in den Sinn, und ich sehne mich danach, diese Musik wieder mit anderen gemeinsam zu genießen. Das immer wieder anklingende Thema strotzt für mich nur so von einem großen Dennoch! Und es schwillt an, wird kräftiger, fast erbarmungslos, durch die stete Wiederkehr des geflügelten Hammerschlags. Erbarmungslos widersetzlich und zugleich erbarmungslos überschäumend wie ein Kelch, aus dem es nur noch sprudelt und quillt. Pure Lebensfreude gegen die erbarmungslose Niedertracht der Welt, gegen die Ödnis und die Gewalt, gegen die Dummheit und die Verlogenheit. Und nun komme ich doch zu einer bestimmten Interpretation: Allein im Spiel von Marcelle Meyer spüre ich diese Kraft ganz, die sich erst in mehreren Anläufen wirklich entfaltet. Sie braucht den Widerpart in den ruhigeren und dunkleren Tönen, die anfangs sich weigern, in den Gesang der Freude einzustimmen. In einer bockigen Melancholie stampfen sie trotzig auf, im nächsten Segment leisten sie hämmernd Widerstand, bevor sie nach und nach sich beruhigen und das Ringen zwischen stürmendem Thema und widerspenstigen Molltönen hineinfließt in eine gedämpfte, getragene Stimmung. Sie legt sich hin wie eine schwere Wolke, auf der einen kurzen Moment Verschnaufen möglich ist – und erst von hier aus nimmt das Dennoch seinen festen, wohlbestimmten Lauf, beginnend mit Vogelgezwitscher und schließlich in die unbändige Lebenslust mündend, die nichts und niemand aufhalten kann. Wie eine Lokomotive walzt sie ihre Schienen und legt sie vor sich hin, um in rasender Fahrt all das Zaudern und Zögern, all den Schmerz und all die Verletzungen hinter sich zu lassen, die Menschen sich zufügen. Hinter sich? Nein, hinter uns! Vielleicht ist Bach zu subversiv für unsere Zeit….
